Dienstag, 18. August 2015

Black Dog Story

Talfahrt

Im November also verlor in erster Linie mein Vater endgültig die Geduld mit mir. Denn ich war auch nach Ablauf meiner Krankschreibung nicht mehr wirklich an die Schule zurück gekehrt. Eigentlich hatte ich tatsächlich seit meiner Heimkehr nichts anderes mehr getan, als in meinem Bett zu liegen und Fern zu schauen und ab und zu mal etwas zu essen. Ausnahmen bildeten lediglich meine Sauftouren an den Wochenenden und eine einwöchige Reise nach Berlin mit einer Freundin im Oktober.

Als ich also wieder einmal nicht aufstehen wollte morgens, stürmte mein Vater in mein Zimmer, riss meine Gardinen auf und brüllte mich an: "Aufstehen, anziehen, mitkommen! Dann bringe ich Dich eben in die Schule!" So wütend hatte ich ihn, glaube ich, noch nie gesehen. Meinem Vater platzte nur sehr sehr selten die Hutschnur. Ich zog mich also tatsächlich an und ging mit ihm nach draußen. Doch schnell merkte mein Vater, in Richtung der Schule bewegte ich mich nur äußerst ungern. Also lud er mich auf einen Kaffee ein und wir führten ein langes Gespräch. Und ich kann nicht behaupten, dass er am Ende dieses Gespräches zufrieden gestellt gewesen wäre. Er war nicht mehr wütend, aber deutlich merkbar maßlos von mir enttäuscht. Ich würde die Schule abbrechen. Er würde unterzeichnen. Realschulabschluss statt Abitur. Das war's für mich am Gymnasium.
Meiner Mutter war das zu jenem Zeitpunkt schon recht egal. Ihr war nur wichtig, dass ich mich sofort beim Jobcenter als Arbeit suchend meldete, damit weiterhin Kindergeld für mich ausgezahlt würde. Und das tat ich dann auch.

Das Jobcenter war mir allerdings keine große Hilfe. Ich schrieb einfach keine Bewerbungen. Egal, wie viele Briefe mit Adressen von Firmen ich auch bekam. Nichts sprach mich an. Für nichts davon wollte ich mir auch nur im geringsten Mühe machen. Dagegen tun konnte das Jobcenter für Jugendliche recht wenig, ich wollte nämlich kein Geld vom Staat. Hätte ich zu jener Zeit Unterstützung vom Staat beantragt, hätten die Dinge natürlich anders gelegen. Aber Geld war mir herzlichst egal, solange ich nur nicht von Zuhause bzw in aller erster Linie aus meinem Zimmer raus müsse. Schließlich lies ich mich aber doch noch dazu bequatschen, in eine Maßnahme zu gehen, welche durch Berufsauszubildenen Beihilfe (BAB) vergütet würde. Meinem schwarzen Hund gefiel die Vorstellung, ab Januar eigenes Geld zu verdienen. Und Unrecht hatte er nicht. Schließlich konnte ich das Geld für Piercings und Tätowierungen gut gebrauchen.

Im Januar also startete ich in jene Berufsfindungs Maßnahme des Jobcenters für Jugendliche und schnell wurde mir klar: leicht verdientes Geld hipp oder hopp - hier hatte ich den geistigen Abgrund erreicht. Und obwohl ich mich von meinem Gehalt sowohl im Februar als auch im März endlich hatte tätowieren lassen können, war ich mit meiner neuen beruflichen Situation mehr als unzufrieden. Ich beschloss zurück an eine Schule zu gehen und bewarb mich daraufhin sowohl für die Oberstufe an anderen Gymnasien als meinem ehemaligen, als auch am Regionalen Bildungszentrum Kiel für den Lehrgang zur Sozialpädagogischen Assistentin und an der Berufsfachschule für Fotodesign Kiel für den Lehrgang zum staatlich geprüften Fotodesigner. Erstaunlicherweise hatte ich das Glück, frei wählen zu können. Im Endeffekt hatten alle mich gewollt. Wer mich kennt oder Vomiter. gelesen hat, weiss, worauf meine Wahl schlussendlich gefallen ist.

Hatte ich also den recht lobenswerten Entschluss gefasst, mich schulisch wieder zu fangen, so hatte ich privat weiterhin die Talfahrt gebucht.

Im April 2011 zog ich auf Grund der für mich nicht mehr zu ertragenden Probleme zuhause und auf Anraten der Beratungsstelle des Mädchenhauses Kiel in einer recht spontanen Aktion zuhause aus und in eine betreute Mädchen-WG bzw Zuflucht. Mein Plan war es, mir irgendwo in Kiel ein WG-Zimmer zu suchen und mit Unterstützung vom Amt nach den Sommerferien wieder zur Schule zu gehen. Doch das war alles nicht andeutungsweise so einfach, wie ich es mir vorgestellt hatte. Zwei Drittel meiner Einnahmen musste ich an das Mädchenhaus abgeben, das Jugendamt wurde über meinen Auszug von zuhause informiert und musste diesen endgültig bewilligen (darauf folgte ein Rattenschwanz an Problemen mit dem Jugendamt). Mit meinen Eltern und dem Rest der Familie gab es dadurch nur noch viel viel mehr Stress, weil sie glaubten und bis heute glauben, ich wollte ihnen einfach nur grundlos gehörig eines auswischen. So gut es mir also in der WG ging, ich erreichte trotzdem meinen emotionalen Tiefpunkt und begann schließlich in jener Zeit, zusätzlich zu meinem Alkoholkonsum, auch noch zu kiffen. Außerdem schaffte ich es, mich von einer mir nahe stehenden Person vergewaltigen zu lassen. Nein, darüber werde ich öffentlich definitiv nicht ausführlicher schreiben!! Man mag es jedenfalls kaum glauben, ich erfuhr auch etwas Positives: nämlich wie es sich anfühlt, sich so richtig zu verlieben und über Jahre hinweg keinen anderen Menschen auf dieser Erde mehr zu begehren und nur um diese eine Person zu kämpfen wie eine Löwin. Ein Kampf, welchen ich Jahre später nicht verlor sondern freiwillig aufgab. Nicht, weil ich diesen Menschen nicht mehr liebte, sondern weil unsere Liebe ungesund war. Und ich glaube zu wissen, er ist heute ein glücklicherer Mensch! Ein WG-Zimmer bekam ich leider nicht. Ich musste zurück zu meinen Eltern. Alles wurde irgendwie immer unerträglicher und der Alkohol und die Drogen immer süßere Freunde.

Die Kurve kratzte ich zum Glück dann im August wieder. Zumindest schulisch! Ansonsten hatte ich fast alles verloren.

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