Dienstag, 15. Januar 2019

5 Minutes of Honesty

Black Dog Story

In vielen vielen Kapiteln habe ich dieses Kapitel meines Lebens geschildert. Wie es dazu kam, was es mit mir emotional gemacht hat. Und doch habe ich nie das Ganze Ausmaß zugeben können. Denn eine Stimme in meinem Unterbewusstsein flüsterte stets: "So viel kannst Du nicht preisgeben. Sie werden es nicht verstehen." Und damit meine ich nicht die immer wiederkehrenden Suizidgedanken, das Verlangen, sich selbst abzustrafen, turbulente zwischenmenschliche Beziehungen, emotionale Abkapselung, Angst oder sonstige offensichtliche Begleiterscheinungen von Depressionen und/oder einer Borderline Persönlichkeitsstörung. All diese Dinge habe ich stets offen adressiert. Warum auch nicht? Sie sind zwar Bestandteil des Ganzen und beeinflussen sicher auch hier und da mein Leben - natürlich tun sie das. Doch sie sind längst nicht mehr Teile meines Alltags. Ich habe Distanz zwischen mir und all diesen Symptomen schaffen können in den letzten Jahren harter Arbeit an mir selbst und meiner Psyche. Und aus der Distanz habe ich offen sein können, offen schreiben können. Damit habe ich zwar niemanden hintergangen oder belogen, außer eventuell mich selbst bezüglich meiner Offenheit. Doch ich habe ein Thema stets umgangen: die Auswirkung der Krankheit(en) auf meinen Alltag. Die omnipräsenten Auswirkungen.

Ich habe nie darüber gesprochen, dass es mir manchmal über Wochen hinweg nicht möglich ist zu duschen, weil ich den Anblick meines nackten Körpers in seiner Gänze nicht ertrage. Stattdessen ist es mir in solchen Phasen lediglich möglich, mich an einem Waschbecken zu waschen, bedeckt mit Kleidung. Das bedeutet, ich halte mich zwar sauber und pflege mich - ich mache dies zeitweise aber nicht, wie es gesellschaftlichen und sozialen Standards entspricht. Und das ist unangenehm. Das ist peinlich. Das ist eine Tatsache, die kaum ein anderer Mensch verstehen können wird. Es ist nur schwer verständlich, dass jemand eine warme Dusche als solches zwar genießen und mögen, jedoch wochenlang schmähen kann, weil der eigene Körper einen anwidert. Umgekehrt ist es für mich kaum vorstellbar, dass dies nicht der Fall sein kann. Ich bin Verhaltensgestört. Seit Jahrzehnten. Warum? Ich war schon als Jugendliche zum einen stark übergewichtig, den geltenden Schönheitsstandards nach zu urteilen kaum ansehnlich, wurde offenkundig "hässlich" und ein "dickes Ding" genannt. Zum anderen war mir die Nutzung der heimischen Dusche maximal zwei Mal die Woche gestattet und irgendwann traute ich mich nicht mehr darunter. Ich entwickelte Angst. Und Angst lähmt. Angst erzeugt Muster. Ungesunde Muster.

Ich habe auch nie darüber gesprochen, dass ich essgestört bin. Nein, keine Magersucht. Keine Bulimie. Aber ein gesundes Essverhalten kannte ich eben auch nie. Ich esse keine drei Mahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag. Meist gibt es, wenn überhaupt nur eine richtige Mahlzeit am Tag. Der Rest ist Scheiße, die man eben so in sich reinstopft. Hier was Süßes, dort eine "Kleinigkeit", tagelang nur Käsebrot, Fertiggerichte noch und nöcher. Und ich weiß es besser. Ich weiß, was eine gesunde Ernährung ist. Immer wieder habe ich klare Phasen. Frühstücke gesund, esse etwas Obst, bereite mir ein frisches Mittag mit viel Gemüse, esse kein Fleisch, verzichte auf Milchprodukte und esse rechtzeitig zu Abend. Doch das hält nie länger als ein paar Wochen. Meist nur Tage. Nicht weil es mir nicht schmeckt, nicht weil es mir nicht gut tut - es kostet mich zu viel Energie.

Ich habe auch nie darüber gesprochen, wie sehr ich Sport eigentlich mag und das ich trotzdem so gut wie nie trainiere. Ja, ich, die den Sportunterricht immer als Geißel empfand, mag Sport. Ich trainiere gern im Fitnessstudio, ich mag Geräte-Krafttraining, mag das Laufband, mache gern Yoga und gehe gern an meine körperlichen Grenzen - wenn ich die Energie dazu finde. Aber Energie besitze ich kaum. Viel lieber verweile ich in meinem Bett. Nein, nicht lieber. Ich hasse es. Ich hasse diese Tage, an denen es sich anfühlt, als würde ich niemals aufstehen können. Ich hasse mich für meine Energielosigkeit. Und doch gebe ich mich dem regelmäßig hin - bin froh, wenn ich mal drei Tage am Stück Yoga Übungen mache. Ein Umstand, der leider kaum vorkommt.

Doch es ist nicht, als würde ich meine Gesundheit ignorieren. Ich gehe freiwillig zu Gesundheitschecks, mache freiwillig Untersuchungen mit. Ich will wissen, wie es gesundheitlich um mich steht. Etwas Gutes, oder? Sicher. Doch ich neige zu überspitzten Reaktionen. Leicht erhöhter Blutdruck, ein etwas erhöhter Blutzuckerspiegel, ein zu hoher BMI? Warum geh ich mich nicht einfach begraben?! Bin doch eh so gut wie tot. Oder nicht? Ja, es grenzt an Hypochondrie. Etwas, wogegen ich bewusst ankämpfen muss. Nicht jede Diagnose ist ein Todesurteil, um Himmels Willen!

Ich habe auch nie darüber gesprochen, dass ich kaum richtige Freundschaften führe. Ich lade so gut wie nie jemanden zu mir ein - noch viel seltener nehme ich Einladungen an. Es gibt nur sehr wenige Leute, deren Wohnungen ich bisher überhaupt betreten habe - viele davon bisher höchstens ein oder zwei Mal, teilweise trotz jahrelanger Freundschaft. Es gibt nur sehr sehr wenige Orte, an denen ich mich nicht nur wohl sondern auch wirklich willkommen fühle. Und zuhause? Das ist mein kleines, meist chaotisches, unordentliches und bestimmt nicht auf Hochglanz poliertes Reich. Bis vor wenigen Monaten weder wirklich bewohnbar, geschweige denn in irgendeiner Weise vorzeigbar. Und obwohl ich hier nun schon fast fünf Jahre wohne, habe ich vor etwas mehr als einer Woche erstmals zu einem Sit-In bei mir geladen. Und verdammt, war ich anfangs nervös!

Ich habe auch nie darüber gesprochen, dass es mir nicht möglich ist, Leuten während Unterhaltungen in die Augen zu schauen. Für gewöhnlich ein Umstand, der schnell als unhöflich gedeutet wird. Von mir jedoch keineswegs als Unhöflichkeit gedacht ist. Doch Augen verraten dem Gegenüber so vieles. Sie sind bekanntlich das Fenster zur Seele. Und das ist ein Fenster, durch welches bitte niemand blicken soll. Ich habe Angst vor ihren Blicken. Gehe davon aus, was sie sehen würden, schreckt sie ab. Nicht eine Sekunde denke ich, meine Seele könnte etwas schönes, betrachtenswertes sein. Ich vorverurteile sie als abstoßend und verberge sie durch Blicke in die Leere. Genau wie ich Leute nicht von mir aus begrüße unter der Prämisse, andere könnten mich eh nicht mögen. Stattdessen warte ich auf den ersten Schritt durch die anderen, die kleinste Bestätigung ein "Hallo" könnte wünschenswert oder aber wenigstens okay sein. Und wirke auch dadurch schlicht distanziert und unhöflich. Was ich gar nicht bin.

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Lieber Leser, Du siehst nun also endlich auch diese Seite der Medaille. Den völlig verkorksten Alltag, den ich erlebe. Die konstante Herausforderung, nicht aufzufliegen, nicht allzu verrückt zu wirken, nicht zu viel preis zu geben von der Entrücktheit meines Lebens. Sicher gibt es noch mehr Aspekte in diesem Zusammenhang, die mir nicht so bewusst sind. Es ist nie einfach, sich diese Dinge ins Bewusstsein zu rufen, sich selbst einzugestehen: Du bist definitiv anders als die anderen Kids. Andererseits kann nur das Erreichen eines Bewusstseins ein Schritt zur Besserung sein.

Ich habe jetzt angefangen, ein so genanntes Bullet Journal zu führen. Ich habe mir in diesem schriftlich und verbildlicht Jahresziele gesteckt, zB die Teilnahme an einem Halbmarathon, um meinen Elan zum Training zu gehen zu stärken oder einen Besuch im Hochseilgarten, um meine Höhenangst zu besiegen. Desweiteren beobachte ich nun mit Hilfe eines Health Trackers ganz genau meine Verhaltensweisen; trage ein, an welchen Tagen ich genug getrunken habe, ob ich Obst/Gemüse gegessen habe, ob ich Alkohol getrunken oder genascht habe, ob ich Yoga oder anderen Sport gemacht habe und ob ich Zeit mit meinem Kind verbracht habe, welches nun schon gut zwei Jahre nicht mehr bei mir lebt. Das hilft mir, mein Leben in den Griff zu bekommen und meinen Alltag zu normalisieren. Ich muss mir mein Selbstbewusstsein erst noch schaffen. Und dazu sind jegliche Hilfsmittel erlaubt. Es ist nie zu spät, den Anfang zu wagen und auch der 500ste Anfang ist noch immer ein legitimer Schritt in die richtige Richtung.

"Es geht nur voran, niemals zurück", ein wichtiges Mantra, welches Freunde mir in den letzten Monaten eingeprägt haben.

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